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  • AutorenbildAndrea Bertschi

Zum Lesen motivieren, literarische Erfahrungen ermöglichen – und was die Schule dazu beiträgt

(Beitrag im Rundschreiben des Zentrums Lesen, Herbst 2016)



Lesen ist eine Schlüsselkompetenz. Wir brauchen sie, um die zahlreichen mit Schrift vermittelten Informationen, denen wir im Alltag begegnen, zu bewältigen. Von den kurzen Mitteilungen auf dem Handy bis zu den anspruchsvollen Zeitungsbeiträgen oder den Artikeln, die wir im Netz finden und die unseren Wissenshorizont erweitern – sie alle sind uns nur zugänglich, wenn wir lesen können. Dass es sich dabei um eine anspruchsvolle Tätigkeit handelt, ist spätestens seit der PISA-Studie und den 2001 veröffentlichten Ergebnissen bekannt (Baumert et al. 2001). Lesefähigkeit ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Es gehören vielerlei Verarbeitungsprozesse dazu. Die meisten Schülerinnen und Schüler sind hier denn auch auf die Unterstützung der Schule, auf Anregungen und auf Übungsgelegenheiten angewiesen.


Lesemotivationen sind wohl die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Kinder und Jugendliche, die in kognitiver Hinsicht dazu in der Lage sind, erfolgreiche Leseentwicklungen durchlaufen. Wer gerne liest, liest häufig – wer häufig liest, liest in der Regel gut – wer gut liest, hat Vertrauen in die eigene Lesefähigkeit und nimmt sich selber als Leserin oder Leser wahr ­– und wer ein in diesem Sinn positives Leseselbstkonzept hat, liest gerne. Ursache und Wirkung dieser einzelnen Merkmale lassen sich nicht eindeutig festmachen, die Leseforschung zeigt verschiedene Zusammenhänge zwischen ihnen. Von welchem Element man auch immer die Wirkungskette aufziehen will: die Lesemotivation, das Lesenwollen (in Bezug auf die Lesetätigkeit) und das Interesse an Lektüren (in Bezug auf bestimmte Texte, Bücher u.a.) sind entscheidend. Leitend für das Verständnis von Lesemotivation(en) ist die Vorstellung, dass kompetente Leserinnen und Leser die Heranwachsenden in die Welt der Schrift hineinführen in der Art eines gemeinsamen, so genannt ko-konstruktiven Herstellens von Verstehen oder auch eines gemeinsamen Geniessens von Texten.


Das Konzept der Ko-Konstruktion geht von einem begleiteten allmählichen Vertrautwerden mit Schrift aus und es verortet die dafür massgeblichen Vorgänge auf mehreren Ebenen: auf der Ebene der Gesellschaft als übergeordnetem Rahmen – die Gesellschaft möchte, dass ihre Mitglieder teilnehmen am öffentlichen Geschehen und damit auch an der schriftlichen Kommunikation und sie macht deshalb „Mitgliedschaftsangebote“ (Hurrelmann 2004); auf den Ebenen der Familie und der Schule, die das Hineinwachsen in die Welten der Schrift begleiten und – im Falle der Schule – auch anleiten; und schliesslich bei den Individuen selber, wobei diese die eigentlichen Konstrukteure ihrer Leseentwicklung sind: Sie entscheiden, was sie lesen möchten, welche Medien sie dafür auswählen, welches persönliche Gewicht sie ihren Lektüren geben, mit wem sie sich über das Gelesene austauschen möchten. Diese Entscheidungen lassen sich beeinflussen: mit einem attraktiven Leseangebot, mit ausreichenden Hilfen bei der Auswahl und beim Durchhalten im Text, mit der geduldigen Verständigung über den – teils nicht offensichtlichen – Sinn der Texte, in Prozessen der Ko-Konstruktion eben.


Das Lesen von Literatur stellt besondere Anforderungen. Es bietet gleichzeitig aber auch einen eigenen Gewinn und dies aus mehreren Gründen:

  • Literarische Texte sind in einer je besonderen, nicht bereits eingewöhnten Weise gestaltet und zwar meist mit einer Sprache, die sich von jener, die wir im Alltag verwenden, deutlich unterscheidet. Literarische Texte folgen anderen als den von uns gewohnten Sprachregeln. Sie präsentieren Ausdrucksweisen, welche die Leserinnen und Leser (noch) nicht gewohnt sind und die sie deshalb auch irritieren können. Leserinnen und Leser müssen sich auf das Ungewöhnliche einstellen, sich auf das so genannte ästhetische Spiel eines Textes einlassen, um es geniessen zu können. Irritation und Genuss sind beim literarischen Lesen also eng miteinander verbunden.

  • Literarische Texte führen in Welten, auch in die inneren Welten der Figuren, die den Lesenden teils vertraut sind, teils aber auch unbekannt, überraschend und die je nachdem vollkommen fremd wirken. Leserinnen und Leser verfolgen Handlungen, erhalten Einblick in Gedanken und Gefühle, mit denen sie sich entweder stark identifizieren können oder von denen sie inneren Abstand nehmen. Das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, zwischen „Selbst- und Fremderfahrung“, den Leserinnen und Leser im Umgang mit Literatur erleben, ist ein Grund dafür, weshalb Literaturlesen attraktiv ist.

  • Literarische Texte zeigen Möglichkeiten von Lebens- und Erlebensformen, sie führen in Welten ein, die anders ausgestaltet sind und anders funktionieren als jene Welt, in der sich die Leserin oder der Leser real befindet. Lesend kann man sich auf wilde Abenteuer einlassen und dennoch behaglich auf dem eigenen Sofa sitzen. Lesend lässt sich je nachdem auch die Schwere des eigenen Alltags überwinden, zumindest für die Zeit, in der man sich in erzählten, attraktiven Umgebungen aufhält. In beiden Fällen, dem so genannten Probehandeln in abenteuerlichen Welten oder der Flucht in die Fiktionalität tritt Selbstvergessenheit beim Lesen ein: ein Zustand, den jugendliche Leserinnen und Leser als besonderen Gewinn bei ihren Lektüren empfinden (Bertschi-Kaufmann 2013).

  • Und schliesslich bewahren literarische Texte Wissen und Vorstellungen früherer Generationen und Epochen auf, schliessen an Traditionen des Erzählens an, an Sprachformen und Sprachbilder, mit welchen man Vorstellungen ausgedrückt hat. In den literarischen Texten bleibt deshalb ein wichtiger Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann 1999) erhalten. Kinder und Jugendliche finden Anschluss daran, wenn sie Zugang zu Texten „aus anderen Zeiten“ erhalten, dazu auch Hilfen, um diese einzuordnen. Dabei ist ein vollständiges Verstehen solcher Texte weniger wichtiger als das Interesse an den Mitteilungen und den Formen von „alten“ Texten.

Die Schule ermöglicht entsprechende Leseerfahrungen, wenn sie auf mehreren Ebenen ansetzt und den Leseunterricht also vielseitig ausrichtet, und zwar

  • zum einen auf das Lesenkönnen mithilfe von Lesetrainings und Aufgaben, welche das Lesen und Verstehen von Wörtern und Sätzen einüben, das Zuordnen von Wörtern zu Bildern, auch das Überblicken von längeren Texten, das Erkennen wichtiger Informationen im Text und insbesondere auch das Kennen und Anwenden von so genannten Lesestrategien, mit welchen man Texte zielgerichtet verarbeiten kann,

  • zum anderen mit der Stärkung der Lesemotivationen, wobei Schülerinnen und Schüler mit vielerlei Texten und Medien umgehen können, ihren Vorstellungen zum Gelesenen spielerisch-gestaltend Ausdruck geben, Lesevorlieben herausbilden, über das Gelesene reden und schreiben und auf diesen Wegen nach und nach anspruchsvollere und längere Texte bewältigen

  • und schliesslich mit literarischer Bildung, konkret der Begegnung mit poetisch gestalteten Texten, Filmen u.a., mit welchen Schülerinnen und Schüler literarische Gestaltungsmittel kennen lernen – auf einfache Weise ist dies bereits mit dem Kindervers, dem Volksmärchen, den sorgfältig gestalteten Kinderbüchern möglich. Und weiter, indem sie Figuren in ihrem Fühlen und Denken kennen lernen, literarischen Traditionen begegnen und in der einen oder anderen Art an literarischer Kultur teilnehmen .

Konkrete Beispiele für den Umgang mit diesen drei Konzepten, dem Lesetraining, der Leseförderung und der literarischen Bildung werden von den Lehrerinnen und Lehrern mit ihren Klassen ausgestaltet und sie gelangen dort erst eigentlich zum Leben: in der Praxis des Lese- und Literaturunterrichts.


Literatur

  • Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C. H. Beck.

  • Baumert, Jürgen; Stanat, Petra; Demrich, Anke (2001): “Pisa 2000: Untersuchungsgegen­stand, theoretische Grundlagen und Durchführung der Studie.” In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, S. 15–68.

  • Bertschi-Kaufmann, Andrea (2013): Jugendlektüre und Gratifikation. In: Rosebrock, Cornelia; Bertschi-Kaufmann & Andrea (Hrsg.) (2013): Literalität erfassen: bildungspolitisch, kulturell, individuell. Weinheim und München: Juventa. 136–149.

  • Hurrelmann, Bettina (2004): Sozialisation der Lesekompetenz. In: Schiefele, Ulrich; Artelt, Cordula et al. (Hrsg.): Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 37–60.

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